Independent in Schrecksbach
Wenn es so etwas wie eine erste Liga der internationalen Labels gäbe, wäre die eine oder andere deutsche Firma in ihr vertreten. Zu ihnen würde auch die deutsche Bear Family Records gehören, die ihre obere Tabellenposition mit der jetzt erschienenen 6CD-Box des Gesamtwerkes der Petards gefestigt, wenn nicht sogar verbessert haben dürfte. Jawohl, richtig gelesen: In der im LP-Format editierten Box finden sich sechs wundervolle und liebevoll gestaltete CDs mit vermutlich allem, was die Band aus Schrecksbach jemals im Studio aufgenommen hat, darunter zahlreiche Bonus-Tracks.
Die Kernbesetzung der Petards, deren Name ins Deutsche übertragen schlicht „Knallfrösche" bedeutet, waren die Brüder Horst und Klaus Ebert (voc/g/key), Rüdiger „Roger' Waldman (b/voc) und Arno Dittrich (dr). Ihren ersten Auftritt absolvierte die Band am 14. August 1965 während der Semesterferien, damals noch mit Hans-Jürgen Schreiber an den Drums. Die offizielle Bandgründung fand jedoch erst 1966 mit dem erklärten Ziel statt, zusätzliches Geld zur Finanzierung des Studiums zu verdienen. Es gab seinerzeit 50,- DM pro Nase und Auftritt. Am 4. August des Jahres wurde dann auch die erste Single „Pretty Miss • Baby Run, Run, Run" aufgenommen und hauptsächlich im Selbstverkauf, aber auch über die Firma Metronome vertrieben.
Der eigentliche Durchbruch der Gruppe erfolgte allerdings erst 1968 mit den Singles 'Golden Glass', 'Tiger Rider' und 'Pretty Liza', 'Rainbows And Butterflies', sowie dem auf Liberty erschienenem Album THE PETARDS. Das Wort Durchbruch mag hier für den einen oder anderen etwas vermessen klingen, denn die Gruppe erreichte nie den Status etwa der Rattles oder der Lords. Auch der Versuch, mit „Misty Island" in der englischen Hitparade zu landen, schlug fehl. Auf der anderen Seite landete „Blue Fire Light" sowohl in Frankreich wie auch in Belgien in den Top Ten, ein Erfolg, der den Petards in ihrer Heimat Deutschland versagt blieb.
Es wäre in diesem Falle aber verfehlt zu behaupten, der Prophet gelte im eigenen Lande nichts, denn die Bilanz, die die Combo bei ihrer Auflösung im Jahre 1972 aufmachen konnte, kann sich durchaus sehen lassen. Im Laufe ihrer Existenz absolvierte sie über 1.000 Auftritte, war in der ZDF Drehscheibe und im österreichischen TV zu Gast, ein Konzert in der CSSR wurde live im Rundfunk übertragen, ihre erste LP zählte über 100.000 ver-kaufte Exemplare, und sogar in Japan gab es Petards-Veröffentlichungen.
Das Erfolgsgeheimnis lag in der genialen Verbindung von englischer Großstadtmusik, Bodenständigkeit und anfangs fehlender Unterstützung durch die Industrie. Der Nabel der Petards-Welt war das hessische Dorf Schrecksbach, in dem die Musiker hausten und das deshalb der Ausgangspunkt aller ihrer Aktivitäten war. So verwundert es nicht, daß alle vier Musiker Milch als Lieblingsgetränk angaben. Durch das Radio war man mit der englischen Beat-Musik vertraut, und diese in Deutschland mit eigenen Kompositionen zu reproduzieren, war das erste Ziel der Band. Eine treue Zuhörerschaft zu finden fiel in einer Region, die so arm an Attraktionen für die Jugend war, nicht schwer.
Ein konsequentes Marketing, das mangels Unterstützung von der Gruppe selbst konzipiert und durchgeführt wurde, half, den Nimbus zu erhalten und zu vergrößern. Heute könnte man die Gruppe zeitgemäß als 'echte' Independent-Band verkaufen. Anfangs machten sie alles selbst: Sie waren ihre eigenen Manager, schrieben ihre eigenen Stücke, waren lange Zeit ihre eigenen Roadies, und selbst die Zuhörer mußten manchmal die Verstärker für das Konzert mitschleppen. Freeman und Freeman ordnen die Petards in ihrem Buch „The Crack In The Cosmic Egg" unter „Rejects and misfits" ein, eine Einschätzung, die nur von Unkenntnis zeugen kann. Es gab immerhin allein in Deutschland 380 aktive Fanclubs, und die Gruppe genoß bei Zuhören und teilweise auch der Presse eine große Reputation. Wenn ihre Musik auch nicht unbedingt die progressivste war, die man sich seinerzeit vorstellen konnte, so entwickelte sie sich doch von einer simplen Beat-Musik zu gut dargebotenem Rock mit sogar psychedelischen Einflüssen. Ich empfehle hier, sich einmal "Blue Fire Light" anzuhören. Überhaupt waren die Verdienste der dörflichen Knallfrösche um die progregsive Musik in deutschen Landen nicht gerade gering, denn sie waren Initiatoren und Veranstalter der legendären Herzberg Festivals, auf denen immerhin solche Größen wie Can, Xhol, Frumpy, Embryo, Guru Guru, Wolfgang Dauner, Amon Düül II, Tangerine Dream oder Popul Vuh auftraten.
Wie schon eingangs erwähnt, enthält die vorliegende Box das gesamte Studiooutput der Schrecksbacher vier, aber auch noch das eine oder andere mehr. So findet sich hier das unter dem Pseudonym Zonk auf den Markt gebrachte Album CREEDENCE CLEARWATER REVIVAL HITS, das, wie der Name verrät, hauptsächlich CCR-Cover enthält. Ein weiterer Bonus ist ein 67er Live-Konzert auf der fünften CD. Diese 13 Auf-nahmen waren bisher alle unveröffentlicht. Hier sind neben den Eigenkompositionen auch Coverversionen enthalten, u.a. „Friday On My Mind" von den Easybeats, „Ruby Tuesday" von den Rolling Stones oder „Stone Free" von Jimi Hendrix. CD Nummer 6 schließlich enthält das bisher unveröffentlichte „M.A.N." aus dem Jahr 1970 und ein über zwölfmi-nutiges Interview. Leider werden keine Angaben gemacht, wann es geführt und wo es ausgestrahlt wurde - das ist aber auch wirklich die einzige Kritik, die ich an der Box anbringen kann. Jede CD trägt auf dem Cover ein unterschiedliches Bild der Gruppe, wobei alle Aufnahmen offensichtlich aus der gleichen Session stammen. Die Tonträ-ger selbst sind Picture-CDs. Die Tonqualität ist durchweg gut bis sehr gut. Begleitet wird das Ganze von einem reich illustrierten 72seitigen Booklet, dessen Texte von Werner Pieper stammen und das eine von Richard Weize zusammengestellte Discographie enthält. Weihnachten steht vor der Tür, und hier hat man ein exklusives Geschenk für jeden alten Petards-Fan oder für alle, die gerne Ausflüge in die (Re-gional-)Geschichte der Rockmusik machen. [WG]