Presse Archiv - KRAUT! - Die innovativen Jahre des Krautrock 1968-1979 - Das Blättchen
Kosmische Klänge
Vor über 30 Jahren hatten deutsche Musiker die Idee, der Musikgeschichte ein eigenes Kapitel hinzuzufügen. Sich von dem klebrigen Rythm and Blues abwenden und den neuen elektroni- schen Instrumenten hingeben, war ein kleiner, aber entscheidender, Schritt, den sie wagten. Man orientierte sich an Stockhausen, verbannte oft Schlagzeug oder einfache Gitarren, spielte lieber auf Kindertröten und selbst gebauten Tasteninstrumenten und ließ Töpfe über Treppen rollen. Dann wieder gab es Gruppen, die nicht nur still auf der Bühne standen und Tasten drückten, sondern ihre aufregende Musik mit Lichtelementen, Schauspielerei und Pantomime verbanden und alles verdammt härter klingen ließen. Die Musikgeschichte bekam mit Klängen, die New Wave vorwegnahmen, als Blaupause für Techno gelten, in den Heavy Metal hinein wirkten und für sich eine ganz eigene Welt schufen, von Johnny Lydon bis zu den Red Hot Chili Peppers rezipiert wurden und werden, wirklich ein wirkungsmächtiges Kapitel dazu.
Nun kommt der aufopferungsvolle und mit wundervollen Zusammenstellungen auftretende Ver- lag Bear Family ins Spiel. Die netten Menschen aus Holste steigen immer wieder in ihre Ar- chive und holen fast Vergessenes, aber zum Vergessen viel zu Wertvolles ans Tageslicht. Nach- dem sie damit die 0er-CD-Box „Die Burg Waldeck Festivals“ bestückt und dem Publikum die wundervolle Serie „Aus grauer Städte Mauern – Die Neue Deutsche Welle“ zur Verfügung gestellt hatten, gaben sie sich nun ganz der Krautmusik hin. Ab März wird es in regelmäßiger Folge Musikdoppelalben mit 00-seitigen Booklets geben. Im ersten Teil konzentriert man sich auf den Norden der Bundesrepublik, denn zwischen Hamburg, Bremen und Oldenburg baute man Kraut der Sorte a an. An erster Stelle ist unbedingt Achim Reichel zu nennen, der nach seinen Beat-Mätzchen mit den „Rattles“ und „Wonderland“ elektronischen Wirrwarr verbrei- tete, den anzuhören noch heute eine Freude ist. „A.R. & The Machines“ nannte er die Band, die die Musik zum Fliegen durch den lila verfärbten Weltraum brachte. Sein Song „Schönes Babylon“ ist einfach nur schön.
Mit dabei sind auch Michael Rother, der „Neu?!“ gründete und dem Krautrock auch solo den Weg aufzeigte, die laut schrammelnden und die Songs mit Heavy anreichernden „Atlantis“, „Lucifer’s Friend“, „Nektar“ und „Eloy“. „Galazy“ brachten wiederum „Supermarket“ mit keyboardlastigem, leicht bombastischem Artrock zum Einsturz. Dabei ist außerdem das Trio „Silberbart“ aus Oldenburg und Wilhelmshaven, das leider viel zu schnell in Vergessenheit geriet. Es rüttelte das Land mit irrem Hardrock, kosmischem Blues und seinem bizarren Sänger Hajo Teschner mächtig auf. Als experimentelles Noise-Trio bezeichnet, orientierte es sich an „Guru Guru“. Irgendwie gehören zu den kosmischen Klängen wohl auch verschiedene Folk-Kapellen, die in Wohngemeinschaften oder Scheunen lebten und vollkom- mene musikalische Schönheit verbreiteten. Wer träumen und beseelten Klang genießen wollte, der war bei „Novalis“ und „Ougenweide“ genau richtig. Die einen sangen „Wer Schmetterlinge lachen hört“, die anderen Texte von Walther von der Vogelweide. Man vermischte traditionelles Liedgut mit moderner Rockpoesie und schuf so kleine Hymnen, die faszinierten und die Zuhörer in duftende Wolken hüllten. Bereits dieser erste Teil lässt durch das Unbekannte oder lange nicht mehr Gehörtes aufhorchen und macht gierig auf mehr.
Thomas Behlert Kraut! Die innovativen Jahre des Krautrock, Teil 1, Bear Family Productions.