Sound Surprisen
Krautrock-Compilations gibt es viele, die meisten wirken jedoch eher beliebig zusammengestoppelt. Einen umfas-senden Überblick über die progressive und innovative deutsche Rockmusik zwischen 1968 und 1979 bietet nun Bear Family Records mit der aus vier Doppel-CDs beste-henden Reihe «Kraut!». Die CDs sind regional gegliedert; bisher liegen die Staffeln aus dem Norden und der Mitte Deutschlands vor; der Süden und Berlin folgen in drei und sechs Monaten. Bear Family Records steht für fundiert und umsichtig kuratierte Compilations — das ist hier nicht anders: Die Songs wurden sorgfältig remastert, und der Kontext wird in 100-seitigen Booklets mit ausführlichen Bandbios mitgeliefert. Wie eine Zeitkapsel katapultiert uns «Kraut!» tief in die 70er-Jahre zurück; schwere Rhythmen, ausufernde Soli, wabernde Keyboards und Synthesizer, drogenverseuchte Melodien; die Anleihen aus britischem Prog und ameri-kanischem Bluesrock und gleichzeitig das Bemühen, sich davon zu emanzipieren.
Die Vagheit des von John Peel geprägten Stilbegriffs «Krautrock» ist so eine Sache. Eigentlich wollte ich an dieser Stelle nicht gross auf eine Definition von Kraut-rock eingehen, doch die ersten zwei ersten Titel auf «Der Norden» zwingen einen doch, darüber nachzudenken. Lucifer's Friend legen mit «Ride the Sky» einen Song vor, der wie eine Kreuzung aus Led Zeppelin, Deep Purple und Uriah Heep klingt, und Atlantis' «Rock'n'Roll Preacher» bluesrockt klassisch und altbacken. Erst der dritte Track, Michael Rothers (ex-Neu!) wunderbares Instrumental «Flammende Herzen», vertont das, was der Herausgeber Burghard Rausch im Booklet beschreibt: Den Ehrgeiz, «sich sowohl von internationalen Vorbildern, als auch von festen Schemata des Musikmachens» freizumachen. Das wirft die Frage auf, ob «Krautrock» eher geographisch oder stilistisch verstanden wird, ob als jede Form von pro-gressiv angehauchter Rockmusik aus Deutschland oder als Bezeichnung von Bands, die sich tatsächlich vom angel-sächsischen Diktat lösten. Aus einer zeitgenössischen Per-spektive wäre der zweite Ansatz zweifellos interessanter; «Kraut!» hingegen neigt hörbar zur geographischen Per-spektive.
Das erweitert natürlich den musikalischen Hori-zont, bringt sehr unterschiedliche Formationen zusammen und macht aus «Kraut!» eine beeindruckende Bestandes-aufnahme deutscher Rockmusik. Natürlich ist nicht alles gleichermassen gut gealtert. Wäh-rend die Innovatoren nach wie vor weltweit einen hörba-ren Einfluss auf immer neue Generationen von Musikern ausüben, kann der heutige Hörer manches nur mit Ver-blüffung aufnehmen. Da werden schlicht zu viele musikali-schen Räucherstäbchen abgefackelt. Doch Michael Rother, Achim Reichels geniale A.R. & Machines, La Düsseldorf, Conrad Schnitzler, Floh de Cologne entschädigen für die-sen Bombast und Pathos mit wahrlich ungewöhnlichen und visionären Klängen. «Kraut!» wagt einen breiten Spagat, und letztlich entpuppt sich das als Verdienst dieser Reihe, die progressiv inspirier-te deutsche Rockmusik in ihrer Breite und Tiefe zu präsen-tieren. Und die Songs, die ich als ästhetische Verirrungen empfinde (ich nenne jetzt lieber keine Namen...), sind in ih-rer Haltung und Sturheit so konsequent, so gewaltig, dass man geradezu eine gewisse Ehrfurcht empfinden muss.
Christian Gasser