Presse - Arthur „Big Boy" Crudup, A Music Man Like Nobody Ever Saw - Bluesnews 87 • Oktober 2016

54 bluesnews 87 • Oktober 2016 CRUDUP
Vom Farmer und Bootlegger zum „Vater des Rock'n'RoII"
VON KLAUS KILIAN - Als seine erste Reissue-LP 1971 den Titel „Father Of Rock & Roll" trug, war der Hauptgrund, dass Elvis Presley drei seiner Songs coverte, aber die wenigen flotteren Nummern, die Arthur „Big Boy" Crudup in den späten 40er- und frühen 50er-Jahren aufnahm, waren tatsächlich nicht so weit von der Mischung aus Country-Boogie und Uptempo-R&B entfernt, die man heute Rockabilly nennt.

„Unten in Tupelo, Mississippi, hörte ich früher den alten Arthur Crudup seine Gitarre bearbeiten, wie ich es jetzt tue, und ich sagte, wenn ich jemals an den Punkt käme, alles zu fühlen, was der alte Arthur fühlte, dann wäre ich ein Musikus (music man), wie ihn niemals jemand gesehen hat." (ELVIS PRESLEY, 1956)


Aber natürlich war Arthur Crudup in erster Linie ein Down-Home-Blueser durch und durch. Am 24. August 1905 in Forest, Mississip-pi, geboren, begann er trotz musikalischer Eltern erst sehr spät mit dem Gitarrespielen —er war schon über 30, als er auf einer alten ramponierten Klampfe erst auf zwei, dann auf drei und schließlich mit allen sechs Saiten zu spielen begann. Singen konnte er schon von klein auf; sein klarer, hoher Tenorgesang sollte sein Markenzeichen werden und trug sicherlich wesentlich mehr zu seinem Erfolg bei als sein eher rudimen-täres, auf rhythmische Begleitung und ein paar solistische Einwürfe in der E-Position beschränktes Gitarrenspiel. Nach Auftritten im Mississippi-Delta zog es „Big Boy" 1940 nach Chicago, wo er auf der Straße spielte —und mangels Jobs auch wohnte —, als ihn zufällig der Plattenproduzent Lester Melrose hörte. Melrose. der ab 1923 für die Platten-labels Victor, Gennett, Paramount, ARC und schließlich für das RCA-Unterlabel Bluebird unzählige Aufnahmesessions leitete, hörte in der einfachen Musik Crudups offensicht-lich etwas, das den Musikgeschmack der Migranten aus Mississippi treffen könnte, die nun in Chicago und anderen urbanen Regionen genug Geld verdienten, um sich Schallplatten leisten zu können.

Big Bill Broonzy und Tampa Red — um nur zwei der Melrose-Künstler dieser Zeit zu nennen —mögen abwechslungsreichere und virtuo-sere Musiker gewesen sein, doch Crudup spielte zum Großteil eigene Songs in einer sehr direkten, schnörkellosen Weise, die sich tatsächlich so gut verkauften, dass RCA Victor von 1941 bis 1952 nicht weniger als 70 Titel von ihm veröffentlichte. Nach einer sehr ländlich klingenden, rein akustischen ersten Session im September 1941 spielte Crudup auf seinen Aufnahmen fortan immer eine leicht verstärkte E-Gitarre, aber es waren eher seine Begleitmusiker, die für zusätzlichen Drive sorgten, zum Beispiel der Bassist Ransom Knowling („Ransom, was fällt dir ein, schon am hellichten Tage zu trinken?" — „Schatz, ich kann nicht anders, ich habe eine Aufnah-mesession mit Big Joe Williams!") oder die Schlagzeuger Melvin Draper, Chick Sanders, Jump Jackson und insbesondere (von 1946-51 gemeinsam mit Knowling) Judge Riley. Bei der ersten Session mit Knowling und Riley im September 1946 spiel-te Crudup die Originalversion von „That's All Right" ein. Die Nummer wurde nicht gleich veröffentlicht und war auch kein großer Verkaufserfolg, aber ein junger weißer Last-wagenfahrer aus Tupelo, Mississippi, hörte die Platte und kannte sie gut genug, um sich im Rahmen seiner ersten Aufnahmesession für Sun Records 1954 daran zu erinnern: Es wurde eine Seite der ersten Single von Elvis Presley, der mit den hier zitierten Worten den Einfluss von Arthur Crudup auf seine Musik erklärte, wobei allerdings nicht klar ist, ob er Crudup tatsächlich persönlich kannte (wie es das Zitat erscheinen lässt) oder nur seine Platten hörte (was wahrscheinlicher ist).

1945 ging Crudup zurück nach Mississippi; er kam zwar immer wieder mal in den Nor-den, um Platten einzuspielen, aber er war kein selbstbewusster Performer und spielte kaum in Clubs, Er arbeitete weiterhin als Farmer und Schwarzbrenner — „I'm A Star Bootlegger" sang er im November 1950 auf der gleichen Session, bei der auch das 1:1 von Elvis gecoverte „My Baby Left Me" entstand, und verriet Anfang der 70er-Jahre dem britischen Magazin „Blues Unlimited" sogar sein persönliches Moonshine-Rezept. Irgendwann fragte Crudup seinen Produzen-ten Melrose, wie viele Platten ein Künstler denn verkaufen müsse, um nicht mehr auf der Ferm schuften zu müssen. Melrose' Antwort ist nicht überliefert, aber klar ist, dass er (gemäß damals weithin üblicher Praxis) die Autorenrechte der Songs seiner Künstler gegen eine kleine Barzahlung komplett erwarb, was bedeutete, dass er nicht nur die Musikverlag-Hälfte kassierte, sondern gleich die ge-samten Tantiemen einsackte. Wenn dann — wie im Falle von Crudup — ein Popstar wie Elvis gleich drei deiner Kompositionen aufnimmt, dann ist das ganze Konstrukt mehr als ungerecht.

Tatsächlich hat sich Crudups späterer Manager Dick Waterman um eine Lösung des Dilemmas mit RCA bemüht, aber ein Ergebnis kam erst nach dessen Tod zustande. 1952 hatte Steve Sholes den Produzentenjob bei RCA von Melrose übernommen und vielleicht war Crudup des-wegen unklar, ob er denn nun immer noch bei RCA unter Vertrag war oder nicht. Jedenfalls nahm er in jenem Jahr Sessions für Chess/ Checker, Champion/Ace und Trumpet auf,die aber alle seine Platten sicherheitshalber unter Pseudonym veröffentlichten — im Falle von Trumpet hieß er „Eimer James", weil Labelchefin Lillian McMurray von ihrer großen Entdeckung Elmore James keine Folgesingle veröffentlichen konnte, denn der war zu Modern Records desertiert. Nach zwei Sessions 1953/54, die z. T. auf dem neuen Unterlabel Groove veröffentlicht wurden, war Arthur Crudups lange Zeit bei RCA dann tat-sächlich beendet. Er ging weiter seinerArbeit nach, spielte kaum noch und wäre vielleicht in Vergessenheit geraten, wenn sich nicht der Plattenproduzent Bobby Robinson in New York an ihn erinnert und ihn 1962 kontaktiert hätte. Robinson holte ihn nach New York und nahm 22 Titel mit ihm auf, größtenteils Neuaufnahmen seiner be-kanntesten Songs, von denen er zwei Singles und eine LP veröffentlichte. So etwas wie ein Come-back hatte Crudup aller-dings erst 1967, als Bob Koester begann, ihn für sein Delmark-Label aufzunehmen. Zwei LPs erschienen und Crudup konnte eine Reihe von Gigs in Clubs und auf Festivals an Land ziehen; 1970 tourte er durch England und nahm eine LP mit britischen Musikern auf. Am 28. März 1974 verstarb er an den Folgen eines Schlag-anfalls. Einige seiner Söhne führten sein Andenken fort und spielten im Jahr 2000 als Crudup Brothers eine sehr gute CD ein.



Die Inspiration dazu, in dieser Blues History Arthur Crudup zu präsentieren, kam durch die kürzlich veröffentlichte 5-CD-Box auf Bear Family Records mit dem Titel „A Music Man Like Nobody Ever Saw". Hier ist alles versammelt, was Crudup für RCA, die im Text er-wähnten kleineren Labels und für Fire Records aufgenommen hat. Das ist eine Menge Zeug und nicht jeder wird sich knapp sechs Stunden Crudup in einem Rutsch anhören, geschweige denn rund 100 Euro dafür ausgeben wollen. Aber es fällt schwer, eine Alternative zu der schön gestalteten Box mit 72-seitigem Hardcover-Buch mit ausführlichem Text von Bill Dahl und vielen Fotos zu nennen, denn Aufmachung und Sound sind einfach phänomenal. Bear Family hat offensichtlich das gesamte RCA-Material von den Original-Sessionbän-dern neu gemastert und Arthur & Co. stehen förmlich im Raum — selbst im Vergleich zu früheren offiziellen RCA/ BMG-Veröffentlichungen ist dies eine erhebliche Verbesserung. Wer sich für diese Art von Blues interessiert und es sich leisten kann, sollte den Hunni investieren. (Weitere Infos zur Box gibt's in der August-Kolumne „Kilians Platten-ecke" auf www.bluesnews.de.) Natürlich gibt es auch unlizenzierte Out-of-Copy-right-Zusammenstellungen, darunter ein sehr umfangreiches 4-CD-Set auf Acrobat, aber die Bear-Family-Box spielt einfach in einer anderen Liga.

Die Delmark-Aufna-men sind zwar nicht schlecht und auf CD verfügbar (inkl. der CD „Sunny Road", die 1969 aufgenommen. erst 2013 veröffentlicht wurde), aber Crudups alte Aufnahmen sind ganz klar seine besten. Die 1970er-„Roebuck Man"-London-Session wurde auf einer Sequel-CD wiederveröffentlicht, die jedoch vergriffen ist. 1973 wurde ein kurzer Dokumentarfilm über ihn gedreht, „Born Into The Blues", den es sich (auf YouTube) anzuschapete.lohnt. (kk)

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