Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.01.2015, Nr. 9, S. 10
Woher nahm er diese Riffs?
Einfach alles von Chuck Berry in einer übervollen Box
Es gibt schon einige Box-Sets zu Chuck Berry, aber dieses versammelt nun wirklich fast alles, was er je aufgenommen hat. Die Plattenfirma Bear Family präsentiert es auf sechzehn CDs zusammen mit zwei schmucken in Leinen gebundenen Büchern. Dass Chuck Berry nicht nur ein Pionier des Rock'n'Roll - und, rein musikalisch betrachtet, sicher der bedeutendste - ist, sondern auch sonst eine spektakulär schillernde Persönlichkeit, macht die Beschäftigung mit dieser Kiste so reizvoll. Berry, so hebt sein Biograph Bruce Pegg in dem beiliegenden Buch hervor, war einer der ersten Musiker im Showgeschäft, der sich selbst managte und um seine Konzerte kümmerte. Noch in den siebziger Jahren zog Berry mit kleinem Gepäck durch Europa und buchte für wenig Geld ortsansässige Musiker, die ihn auf den jeweiligen Konzerten begleiten sollten. Wenn sie ihn um eine Probe baten oder gar fragten, was er denn spielen wolle, pflegte Berry zu antworten: "Nun, ich denke, wir spielen ein paar Chuck-Berry-Songs." Aufgrund dieser Praxis ist dem inzwischen verstorbenen Musikjournalisten Jörg Gülden einmal der Kragen geplatzt. Nach einem Konzert in der Hamburger Markthalle, bei dem es Gülden offensichtlich erschien, dass Berry die ihn begleitenden Musiker auf der Bühne zum ersten Mal zu Gesicht bekam, schrieb er einen Bericht mit der mittlerweile legendären Überschrift: "Das war Kack, Plärri!"
Auch sein prominentester Fan, der Rolling-Stones-Gitarrist Keith Richards, hatte, nachdem er 1986 ein Jubiläumskonzert für Berry zu dessen sechzigstem Geburtstag organisiert hatte, das in Taylor Hackfords Dokumentarfilm "Hail! Hail! Rock'n'Roll!" zu sehen ist, die Nase voll. Nie wieder werde er mit Berry zusammenarbeiten, sagte Richards hinterher. In dem Film verrät Chuck Berry auch sein musikalisches Erfolgsrezept, indem er die Herkunft des Riffs, das "Roll Over Beethoven" und zahllose andere seiner Songs eröffnet, erklärt: "Das habe ich zum ersten Mal in der Band von Louis Jordan bei dessen Gitarrist Carl Hogan gehört. Man mixt ein bisschen Carl Hogan, ein bisschen T-Bone Walker und ein bisschen Charlie Christian zusammen - das gefällt dann wirklich einer Menge Leute!" Die Musik einfach zu halten, sei ein weiterer wichtiger Faktor, wenn man so wie Berry musizieren wolle - "wenn man es meine Musik nennen kann. Es gibt nichts Neues unter der Sonne", so der Meister bescheiden.
Der musikalische Erdrutsch, den Chuck Berry angestoßen hat, bleibt von diesem Understatement allerdings unberührt. Seine ikonischen Songs, die oftmals deshalb nicht
einfach auf der Gitarre zu spielen sind, weil Berry die entsprechenden Riffs von seinem Pianisten Johnnie Johnson geklaut hat, sind unsterbliche Klassiker - darunter "Johnny B. Goode" und "Sweet Little Sixteen". Seine Gitarrentechnik hat Jimi Hendrix und Eric Clapton inspiriert, seine Musik hat die Beatles und die Rolling Stones und alle, die nach ihnen kamen, beeinflusst, seine Songtexte voller poetischer Kraft haben Bob Dylan erst eine Stimme gegeben. All das kann man hier in über einundzwanzig Stunden Musik noch einmal nachhören. Fast überflüssig zu erwähnen, dass die Klangqualität der Aufnahmen, wie von Bear Family nicht anders zu erwarten, exquisit ist und die Aufmachung der Box luxuriös. Die beiden Bücher darin quellen über vor historischem Fotomaterial. Darunter findet man auch, erstmals veröffentlicht, einige erst kürzlich entdeckte Fotos, die Chuck Berrys Onkel, der Fotograf Harry Davis, in den sechziger Jahren gemacht hat. Die Informationen zur Entstehung und Aufnahme der Lieder sind von gewohnt akribischer Detailfülle. Das Wort von John Lennon, nach dem Chuck Berry ein anderer Name für Rock'n'Roll ist, hat immer noch Bestand.
ROLF THOMAS