Süddeutsche Zeitung Diskothek
Ein exzessives Leben hat seine Spuren hinterlassen: Jerry Lee Lewis im Jahr 2008 – 44 Jahre nachdem er den Hamburger Star-Club in Grund und Boden gerockt hatte.
In der Rockmusik ist es nicht nur legitim, sondern sogar erwünscht, sich wie ein Verrückter aufzuführen. Typen wie Iggy Pop, Johnny Rotten, GG Allin, Ozzy Osbourne oder Pete Doherty haben in den vergangenen Jahrzehnten versucht, sich dabei gegenseitig zu übertrumpfen, und gelten inzwischen als die wilden Männer des Rock. Doch wie so oft ist der Blick in die Vergangenheit lehrreich. Und der besagt, dass all die genannten Jerry Lee Lewis nicht das Wasser reichen können, der bereits 1964 das tobendste Live-Album der Pop-Geschichte aufnahm. Nun wird dieses Testament des Wahnsinns in einer wunderschönen Vinyl-Editon wiederveröffentlicht.
Jerry Lee Lewis? War da nicht etwas mit seiner Cousine? In der Tat: 1958 hatte der Südstaaten-Rocker seine 13-jährige Cousine geheiratet, was seine Karriere zum Stillstand brachte. Bei den Medien war er untendurch, nur wenige Fans hielten noch zu ihm. Zum Trost schluckte er Pillen und soff Whisky wie ein Loch. Und wenn er mal ein Konzert spielte, konnte es sein, dass der ganze Frust aus ihm herausbrach.
Im April 1964 trat Lewis zwei Wochen lang im Hamburger Star-Club auf, wo man ihn weiterhin als König des Rock’n'Roll verehrte. Horst Fascher, inzwischen als früher Freund der Beatles legendär, war damals beim Star-Club für die Künstlerbetreuung zuständig. In seinen sehr lesenswerten Memoiren Let The Good Times Roll (Eichborn- Verlag) beschreibt er, wie Jerry Lee Lewis sich damals auf der Bühne präsentierte: “... sobald sich der Vorhang öffnete, ließ Jerry die Bestie aus dem Käfig. Die ersten paar Takte saß er noch relativ verhalten am Klavier. Dann kickte er seinen Hocker mit der Hacke nach hinten und begann, sein Piano mit Handkantenschlägen zu traktieren (...) Und sobald der Killer den Laden im Griff hatte, setzte er noch einen drauf, sprang aufs Klavier und dirigierte die entfesselte Menge zu ‘Breathless’ in Ekstase.”
Das Album Live At The Star-Club Hamburg belegt Faschers blumige Schilderung. Jerry Lee Lewis, damals 28, prügelt aufs Klavier ein und rockt sich wie ein Verrückter durch die Nummern; Hank Williams’ “Your Cheatin’ Heart” ist die einzige Atempause in einem manischen Set. Zusätzlich angetrieben wird Lewis von den Nashville Teens (”Tobacco Road”), einer englischen Beatgruppe, die als seine Backing Band fungiert und dabei bestrebt ist, sich von diesem wilden Mann keineswegs an die Wand spielen zu lassen. So entwickelt sich ein Wettstreit, der die rohe Energie vorweg nimmt, welche später Genres wie Garagenpunk und Hardcore verbreiteten. Auch heute klingt diese Aufnahme noch absolut atemberaubend.