Von Eric Facon
Eine Geschichtslektion in Liedform
Das rührige deutsche Label Bear Family Records veröffentlicht eine bahnbrechende Sammlung von Liedern zum Vietnam-Krieg – jenem Konflikt, der die Jugendbewegung der Sixties mit ausgelöst hat.
Freitag, der 15. August 1969. Joe McDonald steht auf einer Bühne, ausgerüstet mit einer geborgten akustischen Gitarre, und schaut unschlüssig ins Publikum. Da soll- ten 50 000 Zuschauer sein, doch es ist eine gefühlte halbe Million, die sich auf dem Gelände in Bethel, New York, eingefunden hat.
Es ist das Woodstock Music and Art Festival, das später zur Mutter aller Open Airs erklärt wird. Zu je- nem Zeitpunkt aber herrscht das Chaos. Die Zufahrtstrassen sind hoffnungslos verstopft, Men- schen lassen ihre Autos stehen und kommen zu Fuss; nicht ein- mal die Musiker gelangen aufs Gelände. Nun müssen also die auftreten, die bereits hier sind.
Zum Beispiel Country Joe McDonald. Dessen Band ist zwar nicht da und sollte sowieso erst am Samstag spielen, doch man schiebt ihn vor die Menschen- masse. Er bringt den Cheerlea- der-Ruf seiner Band: «Gimme an F, gimme a U, gimme a C, gimme a K, and that spells FUCK.»
Das wird von dem gigantischen Chor zurückgeschrien, die Un- mutsäusserung einer ganzen Generation. Darauf singt er den «I-feel-like-I’m-fixin’-to-die-rag», ein sarkastisches Stück gegen den Krieg in Vietnam. Dieser Moment ging via den Film «Woodstock» und die dazugehörigen Schall- platten rund um den Globus – der weltweit sichtbarste Protest gegen einen als ungerecht und nutzlos empfunden Krieg.
Krieg in der guten Stube
Dieser Krieg war der weltweit erste Fernseh-Krieg. Allabendlich flimmerten in den 60er Jahren Bilder aus Vietnam in die Wohn- zimmer des Westens, Orte wie Khe Sanh oder My Lai, Begriffe wie Vietcong, Ho Chi Minh-Pfad oder Agent Orange gehörten zum allgemeinen Vokabular.
Dieser Krieg wurde von den Vereinigten Staaten angegangen wie jeder andere zuvor: mit menschlicher und technischer Übermacht wollte man den Geg- ner, die bescheidenen nordviet- namesischen Rebellen gefügig machen. Doch der Gegner erwies sich als äusserst hartnäckig und geschickt. Die US-amerikanische Armee mochte mehr Bomben auf das Land werfen als im zweiten Weltkrieg auf Deutschland, man mochte das Truppenkontingent immer mehr aufstocken, man mochte Dschungelwälder entlau- ben, um den Gegner zu entde- cken, doch der blieb unsichtbar und tauchte woanders wieder auf.
1975, nach einem Jahrzehnt des Konflikts, zogen sich die USA ent- gültig aus Vietnam zurück. Was blieb, war ein riesiges Trauma. Erstmals hatten die Ver- einigten Staaten einen Krieg nicht gewonnen. Dafür machte man in erster Linie die Soldaten, die «Vietnam Vets», verantwortlich; viele meinten aber auch, man habe die Schlacht an der Heimat- front verloren, dort, wo der Wider- stand gegen den Krieg riesig war. Dazu gehörten auch die Fernseh- bilder aus dem Kriegsgebiet.
1, 2, 3 – für was kämpfen wir?
Was man da zu sehen und zu hören bekam, war von einer zuvor nie empfundenen, ungefilterten Brutalität. Brennende Wälder und Reisfelder, zerbombte Dörfer, schreiende Kinder, Leichen, Blut, selbst die Erschiessung eines Nordvietnamesen durch den süd- vietnamesischen Polizeichef – keine politische Rhetorik über die Verteidigung des Westens gegen den Kommunismus, konnte diese schlimmen Bilder auslöschen.
Schon früh formierte sich Widerstand gegen diesen Konflikt in Indochina, den die USA von Frankreich übernommen hatten. Anfangs war es die nur die poli- tisch geprägte Folk-Bewegung, im Zuge der Aufbruchstimmung der Jugend wurde daraus eine Mas- senbewegung. Es wurde protes- tiert, auf der Strasse, an den Uni- versitäten des Landes – stets hatte die Rock-Musik dabei eine zen- trale Rolle. Als Kommunikations- mittel, als Schlachtruf.
Die 13 CDs umfassende Box «...next stop is Vietnam» (ein Zitat aus dem angesprochenen Song von Country Joe McDonald) sam- melt nun diese Lieder, die vom Vietnam-Krieg handeln. Aber, und dies macht die Sammlung so bestechend: Dies ist keine Ge- schichte des amerikanischen Pro- test-Liedes. Die Macher dieser Anthologie sind in die Archive gestiegen und haben vielerlei Ton-Material zu Tage gefördert: Radio- und Fern- sehreportagen, Pressekonferen- zen und Präsidenten, kämpferi- sche Auftritte von Gegnern des Krieges, aber auch Ausschnitte aus nordvietnamesischen Propa- ganda-Radiosendungen bilden den Rahmen für diese unzähligen Lieder zum Krieg. Man kennt die frühen Protestlieder, etwa von Folk-Veteranen wie Joan Baez,Bob Dylan oder Phil Ochs. Man hört Lieder, die die damalige Stimmung an den Universitäten und auf den Strassen in den USA opportunistisch auszunüt- zen versuchten – etwa Barry McGuire’s «Eve of Destruction», das sich stark bei Dylan bediente.
Es finden sich aber auch die Protestlieder der Schwarzen der USA, Fundstücke von Marvin Gaye etwa oder von den Shirelles. Protestiert wurde über stilistische Grenzen hinweg, vom Polit-Rock der Fugs bis zum Country von Johnny Cash. Einziger Wermuts- tropfen: «Fortunate Son» und «Run through the Jungle» von Creedence Clearwater Revival, die damals aus jedem Soldaten- radio in Vietnam klangen, konn- ten für diese Sammlung nicht lizensiert warden.
Ein «Warrior», «alright»
Es gibt aber auch Protestlieder gegen den Protest. Vor allem aus der Country-Szene kamen Stim- men, die sich vehement für den Krieg in Indochina und gegen den studentischen Protest ein- setzten – und zwar mit einigem Erfolg. Der Vietnam-Soldat Ssgt Barry Sadler belegte mit «The Bal- lad of the Green Berets» 1966 fünf Wochen lang den ersten Platz der US-amerikanischen Charts, trotz all den Protestliedern.
Mitunter trugen diese Lieder für den Krieg besonders perfide Züge. 1968 sangen vier junge, sehr gut aussehende Frauen namens «Honey Ltd.» über den «Warrior», der nach Vietnam geschickt wird, aber das sei «alright», wie sie im Refrain singen. Die Verpackung dafür ist äusserst verführerischer, tanzbarer Soul-Pop nach der da- maligen Mode. Das sollte der Pro- test mit den eigenen Waffen ge- schlagen warden.
Nächste Station: Vietnam
Besonders eindringlich sind die Beiträge, die nach dem Krieg ent- standen, Lieder über die Vietnam Vets, denen in den USA keine schöne Rückkehr bereitet wurde. Bruce Springsteen und Steve Earle haben darüber geschrieben, ihre Songs sind enthalten. Entdeckens- wert sind die letzten beiden CDs, die die selbst geschriebenen und interpretierten Lieder der Vets ent- halten. Enttäuschte Ideale und Gefühle, zerstörte Träume und Traumata werden hier verarbeitet. Helikopter wabern in der Luft, Grillen zirpen und Bomberflug- zeuge röhren – die akustische Ku- lisse zeigt, was sich Nacht für Nacht in den Köpfen dieser Kriegsveteranen abspielt. Umge- setzt ist das in Mainstream-Pop oder Rock, häufig auch in senti- mentalen Country-Songs; wichti- ger aber ist die emotionale Direkt- heit, die das Blut gefrieren lässt.
Es ist also nicht in erster die musikalische Qualität, die diese Sammlung aufsehenerregend macht.
Es sind die Gegensätze zwischen den Liedern, wie diese Songs aufeinander antworten, wie Debatten gesungen wurden, vor allem aber die Geschichten der vielen direkt Involvierten, die hier ihre Songs vortragen. So entfaltet sich ein Kaleidoskop der 60er Jahre, eine Geschichtslektion zu dem Ereignis, das jenes Jahrzehnt ebenso prägte wie die Aufbruch- stimmung der Jugend, das den Riss zwischen den Generationen mit auslöste. «... Next Stop is Viet- nam» führt in eine Zeit, in der der Song noch etwas anderes war als blosses Unterhaltungsfutter.
INFO: V.A.: «...Next Stop is Vietnam – The War on Record: 1961–2008» (Bear Family Records). 13 CDs mit Musik, eine mit Texten, dazu ein reich bebildertes Buch.